In den Medien wird der Unfall in Eschede im Jahr 1998 mit 101 Toten oft als das schwerste Eisenbahnunglück in Deutschland bezeichnet, doch ist dies nicht zutreffend. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges kam es in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1939 im brandenburgischen Genthin zu einem Auffahrunfall zweier vollbesetzter Schnellzüge, bei dem laut offiziellen Angaben 186 Tote zu beklagen waren. Heute heißt es, daß bei dem Unfall deutlich mehr Personen ums Leben gekommen seien.[1] Es sind aber keine Quellen genannt. Der gleiche Text ist auch auf anderen Webseiten zu finden, die Schilderung stimmt aber nicht ganz. Vor einem Vorsignal braucht man nicht anzuhalten, es steht im Bremswegabstand vor dem nachfolgenden Hauptsignal und kündigt dessen Stellung an. Der Lokführer des anschließend auffahrenden Zuges beachtete das Warnstellung zeigende Vorsignal nicht und mißachtete das folgende, haltzeigende Hauptsignal der Blockstelle Belicke(!) vor Genthin. Strecke und Lok waren zwar mit Zugbeeinflussung – Indusi – ausgerüstet, die in solchen Fällen eine Zwangsbremsung herbeiführen soll, jedoch war die Lokeinrichtung gestört.[2,3] Erich Preuß hat die Akten im Staatsarchiv Magdeburg eingesehen und nennt 186 Tote. So oder so gilt der Unfall in Genthin heute offiziell als der nach der Anzahl Todesopfer schwerste in Deutschland.
Während des Krieges gab es jedoch einen weiteren schweren Unfall, über den nur wenig bekannt ist. Er ereignete sich am 27. Dezember 1941, einem Sonnabend, am zwischen Frankfurt (Oder) und dem damaligen Grenzbahnhof Neu-Bentschen gelegenen Bahnhof Leichholz. Hier gibt es einen Ausschnitt aus einer Karte von 1908. Bei diesem Unfall kamen nach offiziellen Angaben 41 Personen ums Leben, 57 wurden verletzt. Zum Hergang ist zu lesen: „D 123 auf den vor Bf Leichholz haltenden Dg 7053 aufgefahren, durch explodierendes Benzin 6 Kesselwagen des Dg 7053 und 5 Wagen des D 123 ausgebrannt; Halt zeigendes Blocksignal bei Schneetreiben überfahren.“[4] Diese Angaben sollen aus der Statistik der Deutschen Reichsbahn stammen. Anscheinend ist das aber nicht die ganze Wahrheit, denn in der Zeitschrift „Modelleisenbahner“ erschien 1990 ein Artikel[5] zu diesem Unfall, in dem dieser ausführlicher geschildert wird. Würden die Angaben darin zutreffen, dann wäre dies der schwerste Unfall in Deutschland.
Es gibt jedoch Zweifel, ob diese Schilderungen den Tatsachen entsprechen. Neben weiteren Ungereimtheiten, wie der abweichenden Zugnummer, betrug die Höchstgeschwindigkeit auf Hauptbahnen 1941 bis auf wenige Ausnahmen nur noch 90 oder 80 km/h, für diesen Zug 90 km/h. Der Lokführer habe die zulässige Höchstgeschwindigkeit wegen der schlechten Sicht jedoch nicht ausgenutzt und fuhr, da er die Vorbeifahrt am haltzeigenden Blocksignal noch bemerkte, mit etwa 40 km/h auf den Kesselwagenzug auf.[6] Außer der Statistik der Reichsbahn, der dies nicht zu entnehmen ist, sind keine Quellen genannt. Der Autor hält die Schilderungen im oben genannten Artikel offenbar für teilweise erfunden.
Die Angabe, der Lokführer habe die Vorbeifahrt am haltzeigenden Signal der Blockstelle noch bemerkt, erscheint nicht schlüssig. Statt die Fahrt fortzusetzen, hätte er anhalten müssen (FV § 53(2) u. (6)[7]), zumal bei haltzeigendem Signal davon auszugehen ist, daß der folgende Blockabschnitt noch von einem anderen Zug belegt ist. Außerdem sind 40 km/h beim Fahren auf Sicht bei Dunkelheit und Schneetreiben deutlich zuviel, um den Zug noch vor einem Hindernis anhalten zu können. Das Lokpersonal hat den Unfall nicht überlebt, so daß fraglich ist, ob der Lokführer sich überhaupt noch dazu äußern konnte. Der Heizer soll allerdings noch vor dem Aufprall abgesprungen sein.[8] Laut Akte ist ein aus der Nähe Posens stammender Heizer im Krankenhaus verstorben, jedoch geht daraus nicht hervor, ob es der des Unfallzuges war, denn unter den Reisenden waren ebenfalls Lokpersonale.
Sternberg liegt laut Direktionskarte 1938 im km 38,58, das heutige Bahnhofsgebäude Torzym etwa im km 443,36, Leichholz im km 47,76 (≙ 434,25). An der Strecke lassen sich heute einigermaßen zweifelsfrei nur die Reste einer ehemaligen Blockstelle im km 438,68 (≙ 43,34) finden. Von dort sind es noch vier Kilometer bis zum ersten Bahnübergang im km 434,64 (≙ 47,38) an der Einfahrt Leichholz. Die Entfernung ist also groß genug, um den Zug nach der Vorbeifahrt am haltzeigenden Signal rechtzeitig vor einem vor dem Einfahrsignal stehenden Zug anzuhalten. Selbst wenn dieser Abschnitt etwa mittig nochmals durch eine weitere Blockstelle unterteilt gewesen sein sollte, hätte die Entfernung auch von dort ab noch gereicht.
Im Brandenburger Landeshauptarchiv ist eine Akte der RBD Osten zur Abwicklung der bei dem Leichholzer Unfall entstandenen Schäden vorhanden.[9] Das betrifft jedoch nicht die Schäden an Bahnanlagen und Fahrzeugen der Reichsbahn. Enthalten sind auch verschiedene Listen der Verletzten und Toten, jedoch gibt es keine vollständige fortgeschriebene Liste. Insgesamt sind 44 Namen von Unfallopfern enthalten, wobei eine gewisse Restunsicherheit bleibt. Davon sind fünf nach dem Unfall in den Krankenhäusern Verstorbene, elf „verschollene Personen“, die im September 1944 gerichtlich für tot erklärt worden waren, sowie zwei weitere Vermißte, die noch für tot zu erklären waren. Fünfzehn namentlich genannte und sieben unbekannte Unfallopfer wurden im Januar 1942 in einem Gemeinschaftsgrab in Koritten beigesetzt, die anderen in ihre Heimatorte überführt. Weitere 67 namentlich genannte Personen wurden bei dem Unfall verletzt. Zum Unfall selbst ist im Archiv keine Akte vorhanden, was daran liegen könnte, daß es im Gebäude der RBD Osten in Frankfurt (Oder) brannte, nachdem die Deutschen die Stadt bei Kriegsende zunächst verlassen hatten.[10]
Der Schluß des Güterzugs Dg 7053 kam in der Nacht vom 26. zum 27. Dezember 1941 infolge Zugtrennung etwa im km 46,2 zum stehen. Im Bereich km 46,2 bis km 46,35 ist laut Akte der Ackerboden durch ausgelaufenen Treibstoff in Mitleidenschaft gezogen worden, was später zu Ernteausfällen führte. Der Reisezug D 123 – für den auch in der Akte einmal die falsche Zugnummer DmW 123 vorkommt – fuhr von Berlin über Frankfurt (Oder), Neu-Bentschen und Posen nach Warschau. Der Zugbildungsplan der RBD Berlin für 1941/42, der die genaue Wagenreihung des Zuges enthält, ließ sich bisher nicht beschaffen. Abfahrt in Reppen (km 21,22) war planmäßig um 1.08 Uhr, im 53 km entfernten Schwiebus (km 74,67) sollte der Zug ohne vorherigen Halt in Leichholz um 1.52 Uhr abfahren.[11] Daraus ergeben sich rund 74 km/h als Reisegeschwindigkeit. D 123 überfuhr ein haltzeigendes Blocksignal und fuhr etwa um 1.56 Uhr auf den Dg auf, noch bevor dessen Personal den Zug nach hinten absichern konnte. In der ersten Aufstellung des Amtsgerichts Zielenzig vom 30.12.1941 zur Identifizierung der 32 bis dahin gefundenen Opfer steht: „Die Besichtigung der Unfallstelle ergab folgendes: Neben den Geleisen lagen zum Teil in völlig zerstörtem, zum Teil in noch erkennbarem Zustande die Lokomotive, Postwagen, Gepäckwagen, Schlafwagen sowie einige Personenwagen des D-Zuges und mehrere Benzintankwagen des Güterzuges. Die Ursache des Auflaufens des D-Zuges auf den Güterzug ist nicht einwandfrei festgestellt. Wahrscheinlich bildet die Ursache das Überfahren eines auf "Halt" stehenden Signales.“ Weitere Angaben zum Hergang des Unfalls sind nicht enthalten.
Zu diesem Unfall erschien in der Zeitschrift „Modelleisenbahner“ ein Artikel sowie eine darauffolgende Leserzuschrift, die hier vollständig wiedergegeben sind.
Über die Eisenbahnkatastrophe bei Schwiebus[5]
„In den frühen Morgenstunden des 22. Dezember 1939 ereignete sich das schwerste Eisenbahnunglück des deutschen Eisenbahnwesens …“ dieser Satz aus dem dreiteiligen Beitrag von Joachim Grothe, veröffentlicht in den „me“-Ausgaben 1 bis 3/82, wird inzwischen angezweifelt.
Kurt Gollasch, langjähriger Direktor und Fachschuldozent an der früheren Ingenieurschule für Transportbetriebstechnik in Gotha und heute im Ruhestand, schrieb uns kürzlich über das, was er während des Weihnachtsfestes 1942 von Bentschen (heute Polen) aus unmittelbar erlebte – nämlich einen Eisenbahnunfall, der die Ausmaße des Genthiners noch überschritt und der sich wahrscheinlich durch die nationalsozialistischen Machthaber noch besser verschweigen ließ als der von Genthin. Denn offizielle Informationen über diese Katastrophe sind nicht bekannt.
Kurt Gollasch schrieb uns:
Vom 16. Juni 1941 bis 7. Juni 1943 war ich Dienstvorsteher des Bahnhofs Bentschen. (RBD Posen; die polnischen Ortsbezeichnungen sind der Skizze zu entnehmen.)
Auch Weihnachten 1942 rollte auf der Strecke Frankfurt (Oder)—Schwiebus—Neu-Bentschen (—Posen) der DmW 147 (D-Zug mit Wehrmachtteil) in Richtung Warschau. Er verließ Berlin-Charlottenburg gegen 22.00 Uhr. Der Zug überfuhr in der Nacht vom 25. zum 26. Dezember 1942 unweit von Schwiebus ein haltzeigendes Blocksignal (der Name der Blockstelle ist mir nicht bekannt) mit wahrscheinlich 120 km/h und prallte bei trübem Wetter im vorliegenden Blockabschnitt auf einen mit Benzin gefüllten Kesselwagenzug auf. Der Güterzug war vor dem Einfahrsignal des Bahnhofs Leichholz gestellt worden (was den damals geltenden Fahrdienstvorschriften entsprach), sollte in das Überholungsgleis eingelassen werden und vom nachfolgenden DmW 147 überholt werden.
Die Folgen dieses Zugunglücks waren verheerend: Einige Kesselwagen des Güterzuges und der vordere Zugteil des DmW 147 gerieten in Brand. Das Lokpersonal vom Bw Posen, die Eisenbahner im Gepäckwagen, die Reisenden im Schlafwagen sowie in den folgenden drei vollbesetzten Personenwagen verbrannten ausnahmslos. Erheblich war außerdem der Sachschaden. Die mit dem Leben davongekommenen Menschen wurden in den Morgenstunden des 26. Dezember 1942 mit einem Ersatzzug in Richtung Posen weiterbefördert. Mit eigenen Augen habe ich in Bentschen jene Menschen gesehen! – Ihnen sah man auf den ersten Blick die Schrecken der vergangenen furchtbaren Stunden an.
Der Bahnhof Leichholz lag im Betriebsamtsbezirk Schwiebus und gehörte zum RBD-Bezirk Osten mit dem Sitz in Frankfurt (Oder). Wenige Wochen nach dem Ereignis telefonierte ich mit dem Unfallsachbearbeiter des Betriebsamtes Schwiebus – sein Name ist mir entfallen. Er teilte mir mit, daß die Zahl der Toten – soweit sie überhaupt mit Sicherheit festgestellt werden könnte – 284 betrage. Mir ist nicht erinnerlich, ob diese furchtbare Eisenbahnkatastrophe mit allen ihren Folgen in der Presse und im Rundfunk jemals bekanntgegeben wurde. All diese Fakten habe ich nach bestem Wissen und Gewissen und aus dem Gedächtnis niedergeschrieben.
Soweit der Bericht. „me“ möchte über dieses Unglück ausführlicher berichten, ist aber auf die Hilfe von Ihnen, liebe Leser, angewiesen. Wer kann weitere Einzelheiten mitteilen? Selbst der unscheinbarste Anhaltspunkt wird uns weiterhelfen. Unterstützen Sie uns bitte. Tausende Eisenbahnfreunde interessieren sich für eine klare Berichterstattung, die wir so schnell wie möglich veröffentlichen wollen.
Die Redaktion
„Der Güterzug war … gestellt worden“ bedeutet, daß er außerplanmäßig angehalten wurde. Züge fahren nach Plan und benutzen deshalb in den Bahnhöfen in der Regel das für sie in der Bahnhoffahrordnung vorgesehene Gleis. Sollte ein planmäßig durchfahrender Zug außerplanmäßig überholt werden, so mußten der Zug- und der Lokführer davon vorher unterrichtet werden, wenn das Einfahrvorsignal keinen Zusatzflügel hat, der die Einfahrt mit Geschwindigkeitsbeschränkung ankündigt. Da es noch keinen Zugfunk gab, war vorgesehen dem Zugführer auf einem rückgelegenen Bahnhof einen schriftlichen Befehl auszuhändigen oder den Zug eben ersatzweise am Einfahrsignal anzuhalten. Ein anderer möglicher Grund wäre, daß von einem vorher passierten Dienstposten bei der Zugbeobachtung eine Unregelmäßigkeit am Zug bemerkt worden ist, etwa eine feste Bremse.
Wie die Blockstelle hieß, ließ sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen. In der Direktionskarte der RBD Osten von 1938 ist zwischen Sternberg und Leichholz noch keine Blockstelle verzeichnet. Das bedeutet, daß diese erst danach, vermutlich während des Krieges eingerichtet worden ist. In einem PKP-Plan von 1948 ist sie mit „Grochoń“ bezeichnet und war 1965 noch vorhanden. Demnach war sie nach einer 1945 zerstörten Häusergruppe in der Nähe benannt, die deutsch „Krumpfuhl“ hieß.
Das Einfahrsignal Leichholz stand nach einem weiteren PKP-Plan von 1947 im km 434,989, was km 47,024 entspricht. Demnach war der Zugschluß des Dg beim Unfall im km 46,2 gut 800 m vom Einfahrsignal entfernt, was nicht dafür spricht, daß der Zug am Einfahrsignal gestellt wurde und die Zugtrennung erst beim anfahren des Zuges eintrat. Die noch heute bis auf Ausnahmefälle übliche, größte Zuglänge ist 650 m. Darauf sind die nutzbaren Längen der Bahnhofsgleise ausgerichtet, denn sonst könnte man einen Zug nicht zur Überholung in eins der übrigen Gleise einfahren lassen. Dem Plan zufolge stand das Einfahrvorsignal bereits 1000 m statt wie früher noch üblich 700 m vor dem Einfahrsignal, also noch vor dem Bahnübergang vor der Unfallstelle. Stand das Einfahrsignal und damit auch das Einfahrvorsignal für den Dg 7053 bereits auf Fahrt[8], so kann der Lokführer des D 123 dieses irrtümlich auf sich bezogen haben. Dargestellt ist jedoch ein Vorsignal mit Zusatzflügel, das heißt es wurde in diesem Fall Einfahrt mit Geschwindigkeitsbeschränkung angekündigt, was für den planmäßig durchfahrenden D 123 nicht zutreffend ist.
Einige Monate später erschien dann der folgende Beitrag bei den Leserzuschriften.[12]
Eisenbahnkatastrophe bei Schwiebus
Für viele Leser war der Bericht über die Eisenbahnkatastrophe bei Schwiebus Anlaß, uns zu schreiben. Im wesentlichen wurden die bisher zu diesem Ereignis veröffentlichten Angaben bestätigt. Bemerkenswert aber erscheint uns die Zuschrift von Herrn E. Krause aus Potsdam, die wir nachfolgend wiedergeben:
»Am 26. Dezember 1942 vormittags gegen 10 Uhr bekam mein Großvater Paul Beer die telefonische Nachricht, daß in der vergangenen Nacht ein Fronturlauber-D-Zug bei Sternberg (Neumark) verunglückt sei. (Mein Großvater war zur damaligen Zeit »Ehren-Kreiswehrführer« aller Feuerwehren des Kreises Ost-Sternberg.) Weiter hieß es, daß die Feuerwehren in den umliegenden Orten und auch die Kreisfeuerwehr in Marsch gesetzt worden seien. Ich war zu dieser Zeit 17 Jahre alt und habe das alles hautnah erlebt. Noch am gleichen Tage, also am 26. Dezember 1942 bin ich dann per Fahrrad zum Unfallort gefahren. Dies war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, da vom 25. zum 26. Dezember 1942 eine etwa 5 bis 10 cm starke Schneedecke entstanden war.
Zuerst fuhr ich nach Sternberg. Dort erfuhr ich, daß das Unglück in der Nähe des Bahnhofs Leichholz geschah. So bin ich dann über die Straße 167 Frankfurt (Oder)—Schwiebus bis zum Dorf Koritten gefahren und weiter über einen befestigten Feldweg hinunter zum Bahnhof Leichholz. Als ich dort eintraf, war die Unglückstelle schon weitgehend geräumt. Viele Arbeiter waren damit beschäftigt, die Gleisanlagen zu erneuern. Aber genau hinsehen konnte man nicht; alles war weiträumig abgeriegelt. Noch gut kann ich mich erinnern, wie nach einiger Zeit eine kleingedruckte Kurzmitteilung über den Unfall veröffentlicht wurde. Danach seien 33 Tote zu beklagen gewesen, die in einem »Gemeinschaftsgrab« auf dem Friedhof von Koritten beigesetzt wurden. Damaliger Kommentar meines Großvaters, der unmittelbar an den Bergungsarbeiten teilnahm: ,Bei den 33 Toten wurde offensichtlich eine »0« am Schluß vergessen!‘ Einige Monate später hat ein Nachbar, der beim Amtsgericht tätig war, folgendes erzählt: Er habe die Gelegenheit gehabt, die Gerichtsunterlagen zu dem Eisenbahnunglück bei Sternberg einzusehen. Es ist festgestellt worden, daß zum Zeitpunkt des Unfalls ein Schneesturm tobte. Dieser Sturm kam genau auf die Signale, so daß eventuell die farbigen Glasscheiben der einzelnen Signale mit einer ca. 1 cm starken Eisschicht bedeckt gewesen sein könnten. Eine Sichtbehinderung war auf jeden Fall gegeben. Weiterhin wurde festgestellt, daß der mit Benzin gefüllte Kesselwagenzug im Bahnhof Topper vom nachfolgenden D-Zug überholt werden sollte. Bei der Einfahrt in den Bahnhof Leichholz war wohl eine Zugtrennung im letzten Teil des Zuges. Dieser Umstand soll in Verbindung mit der Wetterlage das auslösende Moment für die Katastrophe gewesen sein. Übrigens war der D-Zug mit über 100 % besetzt.«
Schlußfolgerung
- Bei der Eisenbahnkatastrophe in der Nacht vom 25./26. Dezember 1942 (richtig ist wohl doch laut Blaubuch 1941 die Nacht vom 26./27. Dezember 1941) handelte es sich um den DmW 123.
- Wenn man bedenkt, welcher Sachschaden durch das Auffahren des DmW 123 auf den Dg 7053 – mit Benzin beladene Kesselwagen – verursacht wurde (die Höchstgeschwindigkeit der D-Züge betrug trotz des Krieges damals noch 120 km/h), so kann ich der Bemerkung des Großvaters von Herrn Krause ohne weiteres folgen. Nur eine Null fehlte an der Zahl der Toten! Mit anderen Worten: Die damals genannte Zahl der Toten – 284 – wird nicht aus der hohlen Hand gegriffen sein. Ein Massengrab für die Toten spricht ebenfalls für sich! Man muß davon ausgehen, daß es sich hier um eine symbolisierte Beisetzung gehandelt hatte – denn die Mehrzahl der Reisenden verbrannten.
Kurt Gollasch, Gotha
Hält man sich vor Augen was beim Unfall in Elsterwerda 1997 passierte, als mehrere Wagen eines – wegen nicht an die Lok angeschlossener Bremsen – faktisch ungebremst in den Bahnhof einfahrenden Benzin-Kesselwagenzuges entgleisten und anschließend zwei davon explodierten[13], dann erscheinen die vorstehenden Schilderungen durchaus plausibel. Beim Unfall in Langenweddingen 1967, bei dem ein mit 15.000 l Benzin beladener Tank-Lkw bei nicht ganz geschlossenen Schranken der Lok eines einfahrenden Personenzuges in die Seite fuhr und dadurch mehrere Wagen des Zuges in Brand setzte, kamen insgesamt 94 Reisende ums Leben.[14] Auch wenn die Hergänge dieser Unfälle nicht dem von Leichholz gleichen, so zeigt sich doch, welches Schadenausmaß bei größeren austretenden Benzinmengen eintreten kann. In Leichholz fuhr der Zug mit immer noch recht hoher Geschwindigkeit in die stehenden Kesselwagen, so daß fünf ausgebrannte Reisezugwagen und die hohe Opferanzahl durchaus möglich sind. 100 % Besetzung bedeutet, daß auf jedem Sitzplatz ein Reisender sitzt. Die seinerzeit verwendeten Wagentypen 2. und 3. Klasse hatten je nach Ausführung bis zu 86 Sitzplätze. Außerdem war gerade Weihnachtsverkehr, der ja schon beim Genthiner Unfall für überfüllte Züge sorgte. Die Verzögerungen durch das aus- und einsteigen begünstigten letztlich den Genthiner Unfall, weil sich der erste Zug dadurch erheblich verspätete.
Im Foto sind rechts neben der eigentlichen Unfallstelle keine Fahrzeuge auf den Gleisen zu erkennen, die noch lauffähigen Wagen sind also bereits abgezogen worden. Von der eigentlichen Unfallstelle steigt jedoch immernoch Rauch auf.
Aus der oben genannten Akte ergibt sich anhand der Beschädigungsberichte, daß der drittletzte Wagen des Güterzuges Kerosin, der letzte, ebenfalls ein Kesselwagen, Wasserglas, das selbst nicht brennbar ist, und ein weiterer Petroleum geladen hatten. Beim Unfall wurde beim letzten Wagen „Fahrgestell sowie Kessel vollständig zertrümmert.“ Der mit Petroleum beladene, ebenfalls stark beschädigte Wagen ist nicht verbrannt, sondern wurde von einer Firma in Frankfurt (Oder) entladen. Wo er im Zug eingereiht war, ist nicht vermerkt. Außer dem oben bereits zitierten Bericht der Staatsanwaltschaft Zielenzig ist nur noch zu entnehmen, daß der Schlafwagen „vollständig ausgebrannt“ ist. Weitere Angaben sind dazu nicht enthalten. Laut Zeitzeugenbericht „explodierte plötzlich mit lautem Knall“ das ausgelaufene Benzin. „Eine gewaltige Feuersäule stieg dabei in den Himmel empor, so daß es bis Topper-Sorge fast taghell wurde.“[15] Topper-Sorge ist das heutige, von der Unfallstelle gut 5 km Luftlinie entfernte Kłodnica. Der Packwagen brannte demnach nicht aus[8], was angesichts des Fotos möglich erscheint. Der Akte zufolge bargen ein Anwohner und sein Sohn noch Gepäckstücke aus dem Packwagen. Der ums Leben gekommene Ladeschaffner hatte jedoch neben anderen auch Brandverletzungen. Sollte der Packwagen nicht ausgebrannt sein, dann müßten außer dem Post- und dem Schlafwagen noch drei Sitzwagen ausgebrannt sein, denn in der DR-Statistik sind fünf ausgebrannte Reisezugwagen genannt. Nach Zeitzeugenbericht[8] waren die „hinteren 3 – 4 Tankwagen … so deformiert, ausgeglüht und flachgedrückt, daß sie einem Schrotthaufen ähnlich sahen. Die nächsten 3 – 4 Wagen waren nur ausgebrannt und ausgeglüht.“
Bei den Zeitzeugenberichten ist allerdings zu bedenken, daß diese – soweit ersichtlich – nach 1990 entstanden sind, also vom Bericht Gollaschs beeinflußt sein können.
Mit Stand 1938 war zwar die Strecke Berlin—Frankfurt (Oder)—Breslau—Beuthen mit Indusi ausgerüstet, der davon abzweigende Abschnitt Frankfurt (Oder)—Neu-Bentschen jedoch nicht. Er gehörte zu diesem Zeitpunkt auch nicht zu den noch auszurüstenden Streckenabschnitten. Der gelegentlich zu lesenden Vermutung, die Indusi sei während des Krieges generell außer Betrieb genommen worden, kann ich nicht folgen. Eine entsprechende Verfügung der DR ist mir bisher nicht bekannt. Außerbetriebsetzung und ggf. Rückbau verursachen Aufwand, dem kaum Vorteile, aber ernstzunehmende Nachteile gegenüberstehen. Außerdem ist eine funktionierende Indusi angesichts der Verdunklung – auch Signale sollten abgeblendet werden – von noch höherem Wert als ohnehin schon. Plausibel erscheint bestenfalls, daß Schäden an Strecken- und Fahrzeugeinrichtungen ggf. nicht mehr beseitigt wurden.
Zuglok des D 123 war anscheinend eine erst während des Krieges fertiggestellte Lok der PKP-Baureihe Pt 31, die bei der Reichsbahn Ende 1940 als 39 1010p in Dienst gestellt und später als 19 164 geführt wurde.[16] Sie soll noch am Unfallort zerlegt worden sein.[8] Diese Lokomotiven hatten vermutlich ohnehin keine Indusi-Ausrüstung. Allerdings gibt es ein Foto der in Bayern abgestellten 19 155 von 1947, das die Lok mit den Anschriften „Allied Forces“ und „RBD Oppeln, Bw Oderberg Hbf“ sowie mit Indusi-Magnet zeigt.[16] In den übrigen Fotos der rechten Lokseite solcher Loks ist kein Indusi-Magnet zu sehen.
Die Unfallstelle muß etwa anschließend an den im Foto sichtbaren Bahnübergang gewesen sein, der im Meßtischblatt noch weiter östlich liegt. Von dort sind es noch etwa 1300 Meter bis zum ersten Bahnübergang am Bahnhof. Leichholz (Drzewce) ist heute nur noch Haltepunkt, die Strecke ist mit 3 kV elektrifiziert und hat selbsttätigen Streckenblock.
Auf dem Friedhof in Koritten (Koryta) ist keine Grabstelle zu dem Unfall mehr zu finden. Sie war lt. Akte 17 m x 8 m groß, was für die 22 Toten in einem Massengrab recht groß erscheint. Trotzdem ergeben sich bisher keine nachprüfbaren Anhaltspunkte dafür, daß bei dem Unfall wesentlich mehr als die oben genannten 44 Personen ums Leben kamen.
Vielen Dank an Michał Jerczyński, Łódź, und Alfred Warmbold, Lampertheim.